Die Polyvagaltheorie: Der Schlüssel zu mehr Gelassenheit in stressigen Momenten
- Regine Egger
- 27. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. März

Hast du dich schon einmal gefragt, warum du in stressigen Situationen plötzlich anders reagierst, als du es dir eigentlich vorgenommen hast? Vielleicht bei einem wichtigen Gespräch, einer stressigen Arbeitssituation oder im Konflikt mit einem geliebten Menschen. Warum fällt es uns so schwer, ruhig zu bleiben, wenn alles um uns herum hektisch wird?
Die Antwort könnte in unserem Nervensystem liegen – und genau hier setzt das Polyvagalmodell von Dr. Stephen Porges an. In diesem Artikel erfährst du, was hinter unseren stressigen Reaktionen steckt und wie du mit einfachen Techniken lernen kannst, dich besser zu regulieren.
Dr. Stephen Porges und die Polyvagaltheorie
Dr. Stephen Porges, ein renommierter Psychiater und Neurowissenschaftler, hat in den 1990er Jahren das Polyvagalmodell entwickelt. Seine Forschung hat unser Verständnis darüber, wie unser Nervensystem auf Stress reagiert, erheblich verändert. Besonders wichtig ist der Vagusnerv, der als Kommunikationskanal zwischen unserem Gehirn und verschiedenen Körperteilen fungiert. Dieser Nerv hat einen enormen Einfluss darauf, wie wir auf Stress, emotionale Belastung und zwischenmenschliche Interaktionen reagieren.
Was Porges’ Forschung besonders spannend macht: Sie zeigt uns, dass wir durch das Verständnis unseres Nervensystems mehr Kontrolle über unsere Reaktionen haben, als wir vielleicht denken. Auch in stressigen Momenten können wir lernen, uns selbst zu beruhigen und wieder in einen Zustand der Entspannung zu kommen.
Was passiert in unserem Körper bei Stress?
Wenn wir unter Stress stehen, läuft in unserem Körper eine Vielzahl von Prozessen ab. Das Polyvagalmodell erklärt, wie unser Nervensystem auf verschiedene Stressfaktoren reagiert – und warum diese Reaktionen manchmal so heftig und unkontrollierbar wirken. Hier sind die drei Hauptreaktionen, die durch unterschiedliche Nervenbahnen ausgelöst werden:
Ventraler Vagusnerv – Ruhe und Sicherheit: In diesem Zustand fühlen wir uns sicher und entspannt. Unser Körper ist im „Ruhe-Modus“, und wir sind in der Lage, gesunde Beziehungen zu pflegen und uns mit anderen zu verbinden. Dies ist der Zustand, in dem wir in stressigen Momenten ruhig bleiben können – wir sind präsent und klar in unserem Denken.
Sympathikus – Kampf oder Flucht: Wenn unser Körper eine Bedrohung wahrnimmt, aktiviert er den Sympathikus, der für die „Kampf oder Flucht“-Reaktion zuständig ist. Unser Herz schlägt schneller, der Atem wird flacher und wir bereiten uns darauf vor, entweder zu kämpfen oder zu fliehen. Diese Reaktion ist in bedrohlichen Situationen überlebenswichtig, kann aber in modernen Stressmomenten auch zu übermäßiger Anspannung führen.
Dorsaler Vagusnerv – Erstarrung oder Rückzug: Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind, wird der dorsale Vagusnerv aktiviert. In diesem Zustand fühlen wir uns hilflos und überfordert. Der Körper kann „einfrieren“ oder sich zurückziehen. Diese Reaktion ist ein Schutzmechanismus, um uns vor weiterem Stress zu bewahren – jedoch kann sie uns auch davon abhalten, aktiv zu handeln.
Nicht jeder reagiert gleich auf Stress. Tatsächlich hängt es von vielen Faktoren ab – wie zum Beispiel der individuellen Sensibilität, persönlichen Erfahrungen und der Fähigkeit, mit emotionalem Druck umzugehen. Besonders hochsensible Menschen (HSPs) nehmen ihre Umwelt intensiver wahr und reagieren stärker auf äußere Reize. Stressige Situationen können bei ihnen schneller zu intensiven emotionalen Reaktionen führen.
Doch hier kommt das Polyvagalmodell ins Spiel: Es zeigt uns, dass wir durch bestimmte Techniken lernen können, unsere Reaktionen zu regulieren. Auch hochsensible Menschen können durch bewusste Praxis ihren ventralen Vagusnerv aktivieren und sich in stressigen Momenten beruhigen. Das bedeutet, jeder kann lernen, seine Reaktionen zu verstehen und bewusst zu steuern.
Wie kannst du besser für dich selbst sorgen?
Das Polyvagalmodell lehrt uns, dass wir nicht machtlos sind, wenn es um unsere Stressreaktionen geht. Im Gegenteil – durch das Verständnis, wie unser Nervensystem funktioniert, können wir aktiv Techniken zur Selbstregulation einsetzen, um in stressigen Momenten wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Es ist ein kraftvolles Werkzeug, um in herausfordernden Zeiten ruhig und zentriert zu bleiben. Hier sind einige Methoden, die du ausprobieren kannst, um deinem Nervensystem zu helfen und dich in stressigen Momenten zu beruhigen:
1. Aemübungen:
Atemtechniken sind eine der einfachsten und effektivsten Methoden, um das Nervensystem zu beruhigen. Der Vagusnerv wird aktiviert, wenn wir tief und langsam atmen. Eine besonders hilfreiche Technik ist die Bauchatmung. Dabei atmest du tief durch die Nase ein, füllst deinen Bauch mit Luft und lässt die Schultern entspannt. Halte den Atem für einen Moment an und atme dann langsam durch den Mund aus. Wiederhole dies mehrere Male.
2. Achtsamkeit:
Achtsamkeit ist eine kraftvolle Methode, um dein Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen. Es geht darum, im Moment zu sein – ohne zu urteilen oder zu bewerten. Achtsamkeit bedeutet, sich bewusst auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, sei es durch das Wahrnehmen deines Atems oder das Fühlen des Bodens unter deinen Füßen. Indem du dich auf das Jetzt fokussierst, beruhigst du deinen Körper, da dein Nervensystem erkennt, dass keine akute Bedrohung vorliegt. Du schaltest sozusagen den „Kampf oder Flucht“-Mechanismus ab und kannst in einen Zustand der Ruhe zurückkehren. Es geht darum, zu spüren, zu fühlen und mit dem gegenwärtigen Moment in Verbindung zu bleiben.
3. Soziale Verbindungen:
Es mag vielleicht überraschen, aber der Kontakt zu anderen Menschen gehört zu den wirkungsvollsten Wegen, unser Nervensystem zu beruhigen. Wenn wir uns mit Menschen verbinden, die uns unterstützen, aktivieren wir den ventralen Vagusnerv – den Teil unseres Nervensystems, der für das Gefühl von Sicherheit und Entspannung verantwortlich ist. Ein Gespräch mit Freunden, eine Umarmung oder auch ein liebevoller Blick können wahre Wunder wirken, um uns zu beruhigen und Stress abzubauen.
Regulation geschieht in Gemeinschaft. Wir sollten uns niemals einreden, dass wir alles alleine schaffen müssen, denn das stresst den Vagusnerv – und das aus gutem Grund: Es ist nicht die Wahrheit! Wir sind soziale Wesen, und unser Nervensystem funktioniert am besten, wenn wir in positiver Verbindung mit anderen stehen.
4. Natur:
Ein weiterer sehr effektiver Weg, das Nervensystem zu beruhigen, ist der direkte Kontakt zu Mutter Erde. Wenn du dich angespannt fühlst, kann es wahre Wunder wirken, barfuß auf dem Boden zu gehen oder einen Spaziergang in der Natur zu machen. Der einfache Kontakt mit der Erde hilft dir, wieder in den „Ruhe-Modus“ zu finden.
Die Natur hat eine tief heilende Wirkung auf unser Nervensystem. Der Kontakt zu den Elementen – sei es der Boden unter deinen Füßen, der Wind in den Bäumen oder die frische Luft – hilft, den Stress abzubauen und dich zu entspannen. Indem du dich mit Mutter Erde verbindest, förderst du die Durchblutung, löst Verspannungen und gibst deinem Körper die Gelegenheit, sich zu regenerieren. Nach einer Weile wirst du spüren, wie deine innere Ruhe zurückkehrt und du dich geerdet und zentriert fühlst.
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